Der Komponist Miguel Kertsman lädt das Publikum ein, ihn auf einer Reise zu begleiten. Denn ohne Zweifel sind die drei Werke – die Kammersymphonie Nr. 1 „Acorda!“ (1995/96) sowie die früheren Werke Sinfonia Concertante Brasileira für Flöte und Orchester (1989) und das Symphonische Poem Amazônia (1987) – nicht nur für ihn eine Reise, sondern auch für die Zuhörerschaft, wird sie doch in die von den Stücken heraufbeschworenen Klänge und Bilder entführt.
Die Kammersymphonie Nr. 1 „Acorda!“ bringt uns zu einem malerischen Meerespanorama in Brasilien. Das portugiesische „Acorda!“ bedeutet „Erwache!“ – und fordert in diesem Fall auf, der Welt gegenüber die Augen zu öffnen. Unverkennbar die sanften Geräusche an der Küste und des Erwachens der Menschen dort. Der erste Abschnitt heißt denn auch Erwachen; ihm folgt Die Reise. Erwachen lässt an die physische Reaktion der Sinne und an die Dankbarkeit für den neuen Tag denken; Die Reise ist konkreter und bezieht sich auf den Alltag: das Rumpeln eines Automotors, Verkehrslärm, eine Sirene. Dieses Klangbild wird rasch vom geschäftigen Treiben an einem belebten Strand abgelöst. Im dritten Teil, Sonne und Ozean, lässt der Komponist persönliche Eindrücke aufleben: geröstete Erdnüsse; Verkäufer, die am Strand alles von Obstsalat und Eis bis Austern und Bier feilbieten; Geruch von Sonnenöl; Schönheit der Landschaft – und die Symphonie der Klänge mit der Brandung, einem kleinen Flugzeug am Himmel und den Stimmen der Menschen.
Im vierten Abschnitt, Stille Meditation, Himmelfahrt, erschaffen die zwei weiblichen Stimmen, die wir hier hören, ein multirhythmisches Fließen ganz ohne Worte, das über die triviale Strandszenerie hinausweist und die Zuhörenden an den spirituellen Ort der Selbsterkundung und Kontemplation führt. So ermutigt Kertsman sie, sich auf das eigene Empfindungsvermögen einzulassen und zu besserer Selbsterkenntnis zu gelangen. Die gleiche Musik, die noch vorher in Die Reise für das Motorengeräusch stand, wird nun Note für Note mit aufsteigenden Harmoniezyklen in eine friedvolle und beseligende Meditation gewandelt. Die Alltagsbilder und -töne unserer Umwelt erhalten eine neue Bedeutung. Der Appell des Komponisten „Erwache!“ – „Acorda!“ eröffnet die Gelegenheit, die Kammersymphonie Nr. 1 und ihre einzelnen Teile so zu verstehen: Es geht um das Diesseitige, um das Spirituelle und darum, alle unsere Sinne zu aktivieren. Das Werk ist für ein „dunkles Orchester“ ohne Violinen und ohne Holzblasinstrumente der höheren Lagen gesetzt: zwei Bratschengruppen, Violoncelli, Kontrabässe, Oboe, Klarinette, Fagott/Kontrafagott, multiple Perkussion, Orgel, Alt und Sopran.
Nun folgt die Sinfonia Concertante Brasileira für Flöte und Orchester, komponiert 1989, als der 23-jährige Kertsman in New York lebte und für sein Ensemble „Amazonica Universal Orchestra“ progressive Kammerjazzstücke schrieb. Beeinflusst von brasilianischer Musik wie auch vom opulenten romantischen Repertoire des 19. Jahrhunderts – eine für einen jungen Komponisten nicht untypische Schwärmerei –, beginnt die Sinfonia mit einer ruhigen Flötensolokadenz, gefolgt vom rhapsodischen ersten Satz, der sich als Variationsgeflecht zweier Hauptthemen entwickelt.
Als zyklisches Werk konzipiert, hat die Sinfonia Concertante Brasileira zwischen den Sätzen keine Pausen. Also versetzt uns der zweite Satz, Largo, in der traditionellen brasilianischen Form des Choro (zu deutsch: das Weinen), unmittelbar in eine introspektive, irgendwie traurige Stimmung – geschrieben an einem heißen New Yorker Sommerabend. Kertsman bezog die Inspiration dazu von einem Lied, das ihm sein Vater in der Kindheit vorgesungen hatte. Die Worte „so sang er, mein geliebter Vater, jetzt singt er vom Himmel herab“ wurden neun Jahre später eingefügt – als der Vater gestorben war. Zuvor, in jener Sommernacht von 1989, hatten Freunde durch Anrufe wegen einer gerade steigenden Party den Schaffensprozess unterbrochen; doch Kertsman konnte sich nicht von der Musik trennen und komponierte den gesamten zweiten Satz an diesem einen Abend.
Doch die Sinfonia für Flöte und Orchester wurde erst über ein Jahrzehnt später fertiggestellt, nämlich während eines Sommeraufenthalts in den österreichischen Alpen. Der dritte Satz, The Dumb Donkey Called Jackass (Der dumme Esel genannt Blödmann) in Rondoform, hat komischen Charakter: Man stelle sich einen mit Töpfen und Pfannen bepackten Esel vor, der sich strikt weigert, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Da stecken sie nun fest, Eseltreiber und Esel – und das mitten im brasilianischen Hinterland, den „Sertões“.
Eine Kombination von brasilianischen Volksinstrumenten und Alltagsgegenständen, das ganze Orchester im Brazil-Big-Band-Sound, Vokalarbeit durch die Orchestermusiker, ein Solist auch an der Piccoloflöte und „Hey!“ rufend – all dies trägt zum lebhaften und pittoresken Charakter des Satzes bei. Nahtlos verbindet der Komponist die symphonische Welt mit dem Jazz und lässt das Orchester an der Komödie um den Esel ebenso teilhaben wie an der anschließenden Rückbesinnung auf den vorangegangenen langsamen Satz. The Dumb Donkey Called Jackass ruft aber auch die Hauptmotive des ersten Satzes in Erinnerung und schließt den Kreis der Sinfonia Concertante, indem sie mit dem Flötensolo endet, das an ihrem Beginn stand. Und man kann den Solisten hören, wie er den Saal verlässt; seine Töne verklingen in der Ferne. Die Sinfonia Concertante Brasileira für Flöte und Orchester ist für volles Orchester (mit doppeltem Holzbläsersatz), Klavier und zusätzliche Perkussion inklusive ausgewählter brasilianischer Instrumente gesetzt.
Chronologisch ist Amazônia, Symphonisches Poem das früheste Werk von Miguel Kertsman auf dieser CD. Wie der Titel nahelegt, ist der Schauplatz Südamerika, genauer der Amazonas, also „Selva Amazônica“ – der Regenwald des Amazonasbeckens. Die Saat der Eingebung für diesen musikalischen Tribut wurde gesät, als der 21-jährige Komponist über das riesige Gebiet flog. Der Titel ist Programm: Amazônia versteht sich als ökologischer Weckruf, als eine Mahnung, die das Bewusstsein für das riesige Waldgebiet und seine vitale Bedeutung für die Menschheit schärfen helfen soll. Das Stück schildert demnach auch die Landschaft. Kertsman sagt dazu: „Die Musik soll die Gefühle und Eindrücke, die einem die Erfahrung des Amazonas vermittelt, heraufbeschwören.“
Man erfährt die Sicht des Komponisten – und erlebt das immer wiederkehrende Thema der Dualität: die Symmetrie der Klänge wie die Weite des Regenwaldes, die Farben, die Töne, die Erhabenheit all dessen, was man sieht. Doch zugleich sind die Details ganz fein gearbeitet. Da kann man sich das Geräusch von Schmetterlingsflügeln ebenso vorstellen wie jenes eines sanften Regens. Doch Dualität ist auch in der von der Komposition vermittelten Botschaft enthalten. Gier droht unseren anfälligen Planeten zu zerstören – er ist wahrhaftig eine Welt, die sich als Ergebnis dessen, was die Menschheit selbst tut, ganz leicht von ihrem Status als einer fragilen, aber perfekten Harmonie in eine verwüstete und lebensfeindliche Welt verwandeln könnte.
Niemand kann den emotionalen Gehalt von Amazônia besser in Worte fassen als der Komponist selber:
In der Morgendämmerung über den Amazonas zu fliegen ist eine faszinierende Erfahrung. Blickst du hinunter, werden deine Augen mit einem phantastischen Anblick belohnt: Ein weicher, lebendiger Teppich in prachtvollen Grüntönen überwältigt dich. Meditierst du einige Augenblicke darüber, empfindest du bald ein eigentümliches Gefühl von Frieden und innerem Glück. Du bist, wenigstens für ein paar Minuten, in Harmonie mit der Natur. Der majestätische Wald ist eine der Lungen dieser Erde, die unsere Luft erneuern und reinigen. Der mächtige Amazonas und seine Nebenflüsse erschaffen zusammen ein verwirrendes Netz aquatischen Lebens und bewässern zugleich den „Smaragdwald“.
Die reiche Vielfalt des Lebens am Amazonas verblüfft die Wissenschaftler nach wie vor und verwundert uns alle: Da koexistieren so viele Gemeinschaften und Kulturen, und der menschliche Faktor ist nur einer der vielen besonderen Faktoren. Der Amazonas ist in sich selbst eine ganze Welt, die darauf wartet, wirklich entdeckt zu werden. Wer weiß, vielleicht finden wir einige der Antworten für die beharrlichsten Fragen im Herzen dessen, wo die Natur sich selbst feiert.
Es ist nicht meine Absicht, der Komposition ein fixes Programm zu unterlegen. Und doch möchte ich einige Fakten über die Musik und was sie repräsentiert betonen. Mehr als bloß materielle Begebenheiten und geografische Orte musikalisch abzubilden beschwört sie Gefühle und Eindrücke herauf, die man hat, wenn man den Amazonas erlebt. Indem man sich selbst quasi in seine Unermesslichkeit und den allumfassenden Horizont verwandelt: Die „Musik überwältigend enormer Räume“, die rätselhaften Geräusche der Flusstäler, die wilden Rhythmen ihrer Bewohner, die Stürme, die Ekstase und der innere Frieden, die man als Zeuge dieses Festes der Natur empfindet, der Gesang der Vögel und das Rauschen des großen Stroms – sie alle tragen zum Fließen der Impressionen das ganze Werk hindurch bei. So kann sich der Zuhörer / die Zuhörerin einen jeweils eigenen Pfad von Gedanken und Bildern bahnen.
Das zerstörerische Verhalten des Menschen gegenüber dem Amazonas bedroht nicht allein diese Lebenswelt, sondern die gesamte Menschheit. Die Erforschung bisher unbekannter Orte und der Fortschritt insgesamt sind gewiss wichtig, es sind berechtigte Bestrebungen. Leider wird da vieles auf achtlose, kurzsichtige und nicht nachhaltige Weise unternommen. Wenn es unser Schicksal ist, Zeugen der andauernden Zerstörung unseres Planeten zu sein oder aber Zeugen der Steigerung des Bewusstseins und der Vernunft der Menschheit – hier muss der Dirigent das Orchester abbrechen lassen, bevor die Antwort gegeben ist: Beide Seiten kämpfen und hoffen auf den Sieg – die Glocken sind zu hören … Wir müssen hoffen – dürfen den Glauben nicht verlieren.
Der Amazonas ist wahrlich ein Geschenk für die Menschheit. Andererseits weiß ein Kind, sogar das klügste, nicht immer, wie man mit einem Geschenk gut umgeht.
© 1987 by Miguel Kertsman
Reproduced by permission of Amazonica Music, NY
ASCAP Aurua Sounds, Ltd.
Und das Läuten der Glocke am Ende des Stücks? Ist es eine Warnung davor, was die Zukunft bereithält? Ein Appell zum Handeln? Ein Aufruf zur Hoffnung und zur Bewahrung des Vertrauens? Der Komponist bittet Sie, die Zuhörenden, zu entscheiden. Das Symphonische Poem Amazônia ist für großes Symphonieorchester mit dreifach besetzten Holzblasinstrumenten, einer erweiterten Perkussionsgruppe, Klavier und Orgel geschrieben.
Adrienne Lentz
Übersetzt von Paul Stein
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