KÜNSTLER, MAGAZIN
In memoriam Walter Arlen

Schweren Herzens erreichte uns die Nachricht, dass Walter Arlen, österreichisch-US-amerikanischer Musikkritiker, Musikpädagoge und Komponist, am Samstag den 2. September 2023, im Alter von 102 Jahren verstorben ist.

Seine Bereitschaft, seine Lebensgeschichte mit der Welt zu teilen, berührte Herzen und Seelen.


Die Stimme eines Wiener Komponisten aus dem Exil

In den 1890er Jahren begannen rührige jüdische Unternehmer, in den Arbeiterbezirken von Paris, Berlin, London, Liverpool und anderen europäischen Großstädten Kaufhäuser zu eröffnen. Diese sollten die weniger Begüterten in die Lage versetzen, wie die bessergestellten Mittelschichten einkaufen zu können. Im Wien des Jahres 1890 errichteten Walter Arlens Großeltern Leopold und Regine Dichter das „Warenhaus Dichter“ – und zwar an einer belebten Marktstraße eines Proletarierviertels. Es operierte mit einer Gewinnspanne von nur drei Prozent und versuchte alles anzubieten, was seine Kunden interessieren mochte. Es entwickelte sich zum größten Kaufhaus (oder wie man damals in Österreich sagte, „Warenhaus“) in Wiens Vorstädten und wurde zu einem Wahrzeichen von Ottakring, das 1890 als 16. Wiener Bezirk eingemeindet worden war.

Walter Arlen wuchs im Kaufhaus auf. Die Wohnräume der Familie lagen in den oberen Stockwerken, und dort hatte Walter sein eigenes Zimmer – mit einem Klavier. Diese Umgebung formte den jungen Komponisten, der als Walter Aptowitzer am 31. Juli 1920 das Licht der Welt erblickte. Schon allein die Geschichte seines Namens wirft ein Schlaglicht auf einen weithin vergessenen Aspekt der jüdischen Geschichte Österreichs. Arlen erzählt: „Während der österreichisch-ungarischen Monarchie war es gesetzlich vorgeschrieben, dass zusätzlich zur jüdischen Zeremonie eine Ehe auch vor dem zuständigen Standesamt geschlossen werden musste. Mein Großvater väterlicherseits hieß Wolf Preis; er heiratete Hanna Aptowitzer nach jüdischem Ritus, aber sie ließen sich nicht standesamtlich trauen. Jedoch: Kinder eines solcherart nicht zivilrechtlich verheirateten Paares galten als unehelich, und diese Kränkung wurde in die Geburtsurkunde eingetragen. Meine Großmutter hätte also eigentlich Hanna Preis heißen müssen, mein Vater Michael Preis und ich Walter Preis. Die Archive der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde enthalten zehntausende solcher Fälle, weil die meisten Juden die zusätzliche nichtreligiöse Zeremonie mieden. Der Name Aptowitzer kommt wahrscheinlich aus einem Gebiet östlich von Dresden oder aus der Umgebung von Tarnopol in Galizien. In meiner Familie gab es den Professor Victor (Avigdor) Aptowitzer (1871–1942), Rektor der Wiener Israelitisch-Theologischen Lehranstalt für die Rabbiner-Ausbildung von 1923 bis 1938 und einer der großen Bibel-Gelehrten seiner Zeit. Er war der Neffe meiner Großmutter väterlicherseits, der Sohn ihrer Schwester.“ Der Name Aptowitzer erscheint in Soma Morgensterns Roman „Idyll im Exil“, der vermutlich in den mittleren 1930er Jahren entstand.

Walter war musikalisch. Sein Großvater brachte den fünfjährigen Buben zum bedeutenden Musikwissenschaftler und Schubertforscher Otto Erich Deutsch (1883–1976) um herauszufinden, ob er talentiert sei. Deutsch stellte bei Walter ein absolutes Gehör fest und empfahl Klavierunterricht. Arlen erinnert sich an eine glückliche Kindheit. Er war intelligent und gut in der Schule; seine talentierte fünf Jahre jüngere Schwester Edith wurde in die Ballettschule der Wiener Staatsoper aufgenommen – wo sie bei der Premiere von Franz Lehárs „Giuditta“ an der Seite von Richard Tauber tanzte. Die Familie besaß seit 1911 eine Sommervilla im burgenländischen Sauerbrunn. Arlens bester Freund in dieser Zeit war sein Mitschüler Paul Hamburger (1920–2004), der am Wiener Konservatorium studierte und Walter die bedeutendsten Stücke der Klavierliteratur vorspielte, sie für ihn analysierte und ihm erklärte – eine unbezahlbare Erfahrung in den Jahren, die ihn am stärksten prägten. Paul Hamburger wurde später zu einem der bedeutendsten britischen Liedbegleiter und Gesangslehrer; zu seinen berühmten Schülerinnen zählten Dame Janet Baker und Elisabeth Söderström.

Die Annexion Österreichs durch Nazideutschland im März 1938 bedeutete – wie für viele andere – einen Bruch im Leben der Aptowitzers und der Dichters. Diejenigen, die nicht in Konzentrationslagern landeten, fanden sich bald in alle Winde zerstreut, und zwischen ihnen lagen Ozeane. Arlens Cousin Ernst Dichter, einst Dekorateur der 48 Schaufenster des Warenhauses, wurde zu Ernest Dichter (1907–1991), dem Reklame„guru“ und Millionär, in fast der ganzen Welt berühmt für seinen legendären Benzin-Werbeslogan „Put a Tiger in your Tank!“ / „Pack den Tiger in den Tank!“, und dessen marktpsychologischen Thesen Präsidenten, Könige und Industriekapitäne der ganzen Welt folgten. Nach Kriegsausbruch konnten Edith und ihre Eltern sieben Jahre lang nicht aus London weg. Im britischen Exil gelang es ihr – mit 13 Jahren! –, einen Job als Sekretärin bei der Londoner Zeitung „Daily Telegraph“ zu ergattern (wo sie raschest englisch lernen musste); als einzige in der Familie verdiente sie Geld, das also für alle reichen musste. (Flüchtlinge, die älter als 16 waren, durften nicht arbeiten.) Schließlich machte sie sich unter ihrem späteren Namen Edith Arlen Wachtel als Soziologin einen Namen: Sie veröffentlichte die erste Studie über den Einfluss des Fernsehens auf Kinder. Paul Hamburger, Walters Freund, stand ihr während der deutschen Luftangriffe (dem „Blitz“) 1940/41 auf die Hauptstadt zur Seite. Dreimal fand die Familie nach dem Verlassen des Luftschutzkellers von ihrer Wohnung und all ihren Habseligkeiten nur mehr Schutt und Asche vor.

Walter schaffte es nach Chicago. Er erzählt: „Leopold Dichter, mein Großvater mütterlicherseits, hatte eine Schwester, Hanna, die 1891 von Wien nach Chicago ausgewandert war. Deren Tochter Fanny, die Cousine meiner Mutter, heiratete den Anwalt Abe Pritzker. Zur Erfolgsstory der Pritzkers zählten die Gründung der Hyatt-Hotelkette und der Pritzker-Preis für Architektur (als Nobelpreis der Architektur bezeichnet), ins Leben gerufen von Fannys Sohn Jay [1922–1999]1. Die Pritzkers beschafften für uns die für die Einwanderung in die USA benötigten ,Affidavits‘ [beglaubigte Bürgschaftserklärungen, Anm. d. Übs.] und brachten uns so nach Chicago. Ich verließ Wien am 14. März 1939, einen Tag vor dem Erlöschen meines amerikanischen Visums. Kaum war ich angekommen, da führte mich Fanny, die sich mit all ihren Kräften um uns, ihre nahen Verwandten, kümmerte, schon zu „Walzer and Company“, ihrem Kürschner an der Michigan Avenue; die mussten mir einen Job geben. Dort arbeitete ich für 12 Dollar die Woche – bis im Dezember 1941 der Krieg mit Japan ausbrach. Nun wurde ich zu einer die Kriegsanstrengungen unterstützenden Arbeit verpflichtet.

Wie alle Flüchtlinge aus Nazi-Österreich hatte ich das Land mit dem Gegenwert von fünf Dollar in der Tasche verlassen müssen, niedergeschlagen, eingeschüchtert, verunsichert, mein Vater im KZ, meine Mutter völlig außer sich, zusammen mit meiner 13-jährigen Schwester und der Mutter meines Vaters, mittellos; und niemand, der mich in Wien beschützt hätte; alle Hoffnungen und Träume waren zunichte gemacht. Dabei hatte ich Glück, der Verhaftung entkommen zu sein, dem Todeslager entkommen zu sein, Österreich entkommen zu sein. Zwei Monate nach meiner Flucht kam mein Vater aus Buchenwald frei. Meine Mutter und meine Schwester hatten gerade fünf Tage Zeit, um dann mit ihm zusammen mittels der Visa, die ich vor meiner Abreise beschafft hatte, nach Großbritannien zu gehen. Doch für die Mutter meines Vaters konnten wir nichts tun. Sie wurde in Treblinka ermordet.

Der ,Guru‘ unserer (amerikanischen) Familie, der Psychoanalytiker Dr. Erwin O. Krausz, der ebenfalls in Chicago lebte, hatte das Anglisieren von Namen zu einer Art Hobby gemacht. Silberstein wurde zu Silton. Aus Aptowitzer wurde Arlen. Keiner von uns hatte je von Harold Arlen gehört, geboren 1905 in Buffalo, New York, als Hyman Arluck, Sohn von Emigranten aus Litauen. Seinen neuen Namen setzte er aus der ersten Silbe seines alten und dem ungefähren Klang der Endsilbe des Mädchennamens seiner Mutter, Orlin, zusammen. Er war der Komponist von Over the Rainbow, Stormy Weather und fünfhundert anderen Songs.“ Er starb 1986.

Über das Leben in Chicago als 18-jähriger Flüchtling und den Bruch in seiner musikalischen Entwicklung berichtet Walter Arlen weiter wie folgt: „Ich komponierte seit ich ungefähr zehn war; irgendetwas trieb mich dazu. Als ich in den ersten Jahren in Amerika, in Chicago, keinen Zugang zu einem Klavier hatte und meinen Drang zu komponieren nicht befriedigen konnte, fiel ich in eine Depression. Sogar meine Haare begannen auszufallen. Weil eine befreundete Sozialarbeiterin das bemerkte, lag ich dann zwei Jahre lang bei einem Psychoanalytiker auf der Couch. Dort lernte ich unter anderem, dass ich komponieren musste, um nicht krank zu werden. Ich fand Leo Sowerby [1895–1968], den berühmten Organisten und Komponisten Chicagos, und bat ihn um Kompositionsunterricht. Er ließ mich regelmäßig Kontrapunkt üben. Ich sandte einen Liedzyklus zu einem Wettbewerb ein und gewann den 1. Preis. Dieser, so stellte sich heraus, bestand aus einer Reihe von Unterrichtsstunden bei Roy Harris [1898–1979, damals der berühmteste Symphoniker der USA]. Bald fragte er mich, ob ich nicht sein Assistent werden wolle. Ich sollte bei ihm, seiner Frau, der Pianistin Johana Harris [1912–1995], und ihren drei Kindern während seiner Zeit als ‚Composer in Residence‘ an einer Universität Quartier nehmen. Ich stimmte zu, musste aber warten, bis meine Eltern und meine Schwester aus London angekommen waren. Die nächsten vier Jahre verbrachte ich mit der Familie Harris an drei verschiedenen Universitäten, lernte viele Komponisten, Dirigenten und Musiker kennen und schloss während dieser Zeit mein Bachelor-Studium ab. Ich entschloss mich, meine Kenntnisse zu vertiefen, und zog nach Santa Monica in Südkalifornien, wo meine Tante Esther und ihr Mann und mein Großvater, Leopold Dichter, in einem Haus wohnten. Ich begann, an der UCLA [University of California, Los Angeles] zu studieren. Nach einem Monat wurde mir vorgeschlagen, Musikkritiker für die „Los Angeles Times“ zu werden, damals die Tageszeitung mit der weltweit größten Auflage. Ich setzte meine Ausbildung durch Unterricht bei Lukas Foss [als Lukas Fuchs in Berlin geboren; 1922–2009] und die Erfüllung anderer Anforderungen für den Abschluss des Magisters der Musik fort.“

Arlen schreibt weiter: „Als Musikkritiker beschäftigt, komponierte ich fast dreißig Jahre lang nicht. Irgendwie fand ich Musikkritik unvereinbar mit Komponieren. Ich hatte keine Lust, meine Waren anzupreisen. Mein Drang, mich schöpferisch auszudrücken, schien zu einem gewissen Grad durch das Verfassen von Rezensionen befriedigt. Dass meine Worte gelesen und geschätzt wurden, hatte mir zu genügen. Und ich musste ja auch von etwas leben. Um genug zu verdienen, ergänzte ich mein Einkommen von der ‚Times‘, indem ich Angebote annahm, an diversen lokalen Colleges und Universitäten zu unterrichten. Höhepunkt war das Angebot, die Musikabteilung der Loyola Marymount University2 zu begründen und ihr vorzustehen; zugleich arbeitete ich weiterhin als Musikkritiker. Während eines Sabbaticals 1986 stieß ich auf eine Reihe von Gedichten des Hl. Johannes vom Kreuz, die ich unwiderstehlich fand. Spontan vertonte ich sie. Von da an komponierte ich weiter, bis mich meine Erblindung durch Macula-Degeneration um das Jahr 2000 aufzuhören zwang. Bis dahin hatte ich 65 Werke geschrieben. Hätte ich mehr Zeit und bessere Bedingungen gehabt, wären es zwei- bis dreimal soviel geworden.“

Im Folgenden gibt Walter Arlen kurze Erläuterungen zu jedem Zyklus und den Einzelwerken, aus denen diese bahnbrechende erste Aufnahme seiner Werke besteht:

„Ich kann nicht sagen, was der Musik den Anstoß gab zu sein, was sie ist. Es war nie ein bewusster Prozess. Ich setzte mich einfach hin und schrieb. In jedem einzelnen Fall war die Werkfarbe ein Resultat, nicht etwas Angestrebtes oder das Ziel.“

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